01.04.2021 | Inside Data Science

Norman Sieroka im Interview über Philosophie und Data Science



Norman Sieroka ist Professor für Theoretische Philosophie und beschäftigt sich unter anderem mit philosophischen Fragen zum Umgang mit Daten und zu Erkenntnisprozessen.


Mit welchen Themen beschäftigen Sie sich zurzeit in Ihrer Forschung?
Ich beschäftige mich in meiner Forschung viel mit dem Thema Zeit. Durch meinen Hintergrund in der Physik interessiert mich dabei einerseits die physikalische Zeit: Wie messen wir Zeit? Wie bestimmen wir Zeit in der Physik? Aber andererseits beschäftigen mich auch Fragen nach dem Erleben von Zeit, zum Beispiel bezogen auf Phänomene wie Langeweile oder auch Veränderungen, die wir gerade durch Corona erfahren. Der zweite große Bereich meiner Forschung ist die Philosophie der Einzelwissenschaften: Wie funktionieren Wissenschaften? Wie gewinnen wir Erkenntnisse? Bei diesen Fragen sind der Umgang mit und das Verständnis von Daten besonders wichtig. Hier interessiere ich mich für den Kontext der exakten Wissenschaften – also neben der Physik auch Mathematik und Informatik. Aber ich habe auch Projekte mit Kolleg*innen aus Pharmazie, Geschichte und Architektur.

Wie wichtig sind Daten für Ihre Forschung?
Philosophie ist eine Reflexionswissenschaft. Wir sind also im Wortsinn immer schon auf „Daten“, auf etwas Gegebenes oder Vorgegebenes, angewiesen. Philosoph*innen erheben selbst typischerweise keine empirischen Daten in ihrer Forschung; die Daten der Philosophie sind eigentlich Bücher und Texte.
Und dann gibt es eben konkrete Forschungsprojekte, bei denen ich mich mit philosophischen Fragen zu Daten und zum Umgang mit Daten beschäftige. Beispielweise haben wir gerade mit Kolleg*innen aus Zürich ein Projekt zum Thema „AI augmented architectural design“ gewonnen. Dabei geht es darum, inwiefern KI-Verfahren in Designprozessen eingesetzt werden können, um zum Beispiel Wände oder Fassaden mit bestimmten Eigenschaften zu gestalten. Damit verbunden sind in der Tat auch eine Reihe spannender philosophischer Fragen.

Welche Rolle spielt Data Science in Ihrer Forschung? Sehen Sie sich selber eher als Anwender*in, Methodenentwickler*in, Grundlageforschende*r oder vielleicht was ganz anderes?
Ich würde mich nicht als Grundlagenforscher im engeren Sinne beschreiben, aber im weiteren Sinne, da ich mich aus der Reflexion heraus mit grundsätzlichen Fragen beschäftige. So sind für mich bereits die unterschiedlichen Einschätzungen verschiedener Disziplinen und Forschungskontexte sehr interessant und aufschlussreich. Während eine Disziplin zum Beispiel durch die Weiterentwicklung bestehender Theorien geprägt ist, fokussiert eine andere vor allem auf konkrete und detaillierte Problemlösungen. Aber beide arbeiten hierbei datenintensiv und dies mit zum Teil ähnlichen, zum Teil unterschiedlichen Methoden. Außerdem spielen Daten bzw. Methoden der Datenanalyse auch eine wichtige Rolle zum Zusammenhang meiner Forschung zum Thema Zeit. Hier kommt man nämlich schnell zu Fragen nach dem Zusammenhang von zeitlichen Korrelationen und kausalen Abhängigkeiten – Stichwort „causal interference“. Auch im Kontext der COVID-19 Pandemie ist das ein hochaktuelles Thema – man denke etwa an die Diskussion um Impfstoffnebenwirkungen: Wie kann man hier beispielsweise von vereinzelten Thrombosefällen auf kausale Abhängigkeiten schließen?

Welche Data Science Aspekte und Technologien stehen bei Ihrer Forschung besonders im Fokus oder könnten auch in Zukunft interessant werden?
Bei der Frage, wie sich Erkenntnisprozesse ändern, interessiert mich beispielsweise, was auf dem Rechner oder dem Roboter sozusagen ausgelagert wird und was nicht. Außerdem interessiert mich, wann man Ergebnisse, die mithilfe von KI gewonnen werden, als genuin neu oder gar als kreativ bezeichnen würde. Oder auch die Frage nach dem Verhältnis von Automatisierung zu Personalisierung in Designprozessen – eine Frage, die sich nicht nur auf die Architektur beziehen lässt, sondern insbesondere auch auf drug design und personalisierte Medizin.
Und eine grundlegende Frage, die sich insgesamt stellt, ist die nach dem Verhältnis von Vorhersagen, die datenbasiert immer besser und erfolgreicher werden, und dem wissenschaftlichen Verständnis oder der Theoriebildung. Da gibt es Hoffnungen wie auch Sorgen: Die Vorhersagen werden zwar genauer, aber vernachlässigen wir nicht umgekehrt die wissenschaftlichen Einsichten oder Erklärungen? Oder erübrigt sich diese Sorge mit der erfolgreichen Implementierung? Wenn beispielsweise Neurowissenschaftler*innen morgen eine künstliche Retina bauen, die perfekt funktioniert, dann könnte man ja sagen, dass damit die Frage nach einer Theorie des Sehens hinfällig wird. Es sei ja „offensichtlich“ schon alles Wesentliche implementiert. Auf einen philosophischen Slogan gebracht: verum factum – wahr sei ohnehin nur das, was wir selbst geschaffen haben. – Oder doch nicht?

Was sind Ihre großen Herausforderungen im Umgang mit Daten?
Für mich ist die große Herausforderung, allgemein den Umgang mit Daten besser zu verstehen, insbesondere die Dynamiken und Erkenntnisprozesse, die dahinterstehen bzw. dadurch ermöglicht werden. Die Grundidee solch einer philosophischen Reflexion ist dabei folgende: Je besser ich etwas verstanden habe, desto besser bin ich auch vorbereitet auf das, was noch kommt. Ich habe zwar keine Eins-zu-eins-Lösung für alle Probleme, verstehe aber generell besser, wie mit Daten in verschiedenen Kontexten umgegangen wird und kann mich somit auch besser auf neue Situationen einstellen. Und selbstverständlich knüpfen sich an diese neuen Situationen auch viele praktische Fragen zum Umgang mit Daten an – also Fragen beispielsweise zu Datensicherheit, Datenschutz oder zu internationalen Vereinbarungen wie dem Nagoya Protokoll. Meiner Ansicht nach benötigen wir hier aber vor allem ein theoretisches Verständnis, um dann diese praktischen Fragen sinnvoll angehen zu können.

Und zum Abschluss, was ist Ihre persönliche Motivation beim Data Science Center mitzumachen?
Interdisziplinarität und Reflexion. Einerseits bin ich selbst sozusagen interdisziplinär großgeworden: seit dem ersten Semester habe ich Philosoph, Physik und Mathe studiert. Dementsprechend schätze ich interdisziplinäre Zentren und Querschnittsplattformen an der Uni sehr und freue mich über die Zusammenarbeit und den Austausch im Data Science Center. Und andererseits bin ich als Philosoph bzw. Reflexionswissenschaftler zu einem gewissen Grad von solchen Netzwerken abhängig. Der Austausch mit anderen Forschenden, die mit Daten arbeiten oder KI anwenden, ist ja eine inhaltliche Voraussetzung, um philosophisch relevante Aspekte überhaupt untersuchen zu können.


Mehr zu Norman Sierokas Tätigkeiten erfahren Sie am 08.04.2021 in seinem Beitrag „Data Science and Philosophy“ im Data Science Forum.

Interviewpartner:
Prof. Dr. Dr. Norman Sieroka
Professor für Theoretische Philosophie
FB 09 – Kulturwissenschaften
sieroka@uni-bremen.de



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